"AUFSTAND DER MASSEN"
José Ortega befasste in den 1920er Jahren mit der dem Massenmenschen, welcher sich nicht mehr passiv und gehorsam gegenüber einer führenden Gesellschaftsschicht verhält, sondern Recht auf seine eigene Gewöhnlichkeit einfordert.
Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise sieht er als eines der Hauptprobleme die Überfüllung der Städte und der Versuch des Einzelnen, einen Platz zu finden. Dabei entwickelt er den Massenmensch jedoch nicht quantitativ, sondern beschreibt ihn psychologisch:
„Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist jedoch, daß die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall einzusetzen.“ Gleichzeitig attestiert Ortega durch das Massenphänomen auch eine Steigerung des Lebensstandards, welcher u.a. den kleinen Errungenschaften von vielen Einzelpersonen zu verdanken ist: „So fördert der Durchschnittsgelehrte den Fortschritt der Wissenschaft, eingesperrt in seine Laboratoriumszelle wie eine Biene in der Wabe ihres Stocks oder wie der Gaul im Laufkreis des Göpels.“
Auch ein Moralverfall wird thematisiert, indem Menschen (vergleichbar mit dem Faschismus) ohne Rücksicht ihren Willen durchsetzen und somit eine liberale Ordnung, in der ein Zusammenleben mit dem Schwächeren möglich wäre gefährdet. Die Masse wählt den direkten Weg, ohne einer Minderheit ihr Recht zuzugestehen.
Hieraus entwickelt Ortega auch eine Staatskritik, in der eine anonyme aktiv werdene Masse lyncht und einen anonymen Staat (ursp. reines Verwaltungsorgan) übernimmt, welcher dann wiederum alles bürokratisiert und den Einzelnen verhätschelt. Der Autor plädiert nicht zuletzt deshalb für einen europäischen Nationalstaat, welcher sich über sprachliche und ethnische Unterschiede hinwegsetzt.
Quelle: Aufstand der Massen, S.13 ff 117 ff
MASSENPROBLEME
Die von Ortega beschriebenen Beobachtungen haben auch heute in vielerlei Hinsicht nicht an Aktualität verloren. Ein Beispiel hierfür ist die reaktionäre Bewegung Pegida, welche sich als durchschnittliche Deutsche, selbst gar als Europäer verstehen, und ihr „Recht“, dass alles bleiben soll wie gewohnt, lautstark einfordern. Sie lassen keine Meinung neben der Eigenen gelten und bieten eine vermeintliche Plattform für ängstliche Menschen.
Durch die Menschenmenge generieren sie Stärke und Aufmerksamkeit. Durch ihre Parolen wird nicht nur Angst geschürt, sondern auch ein Gewaltpotenzial gegen Flüchtlinge geschaffen. Jedoch auch umgekehrt funktionieren Ortegas Thesen, indem durch den Vorbehalt einer würdigen Unterbringung, bzw. eines würdigen Lebensstandards für Heimatsuchende eine quantitative Masse an unzufriedenen Menschen aktiv wird und gegeneinander, oder gegen andere Menschen Gewalt anwendet.
Generell spielt bei Massenphänomenen auch der Kontext, ob existenziell oder in einer Wohlstandsgesellschaft eine Rolle, sowie die Bewegungsrichtung der Masse (miteinander oder gegeneinander). Empfindet der Einzelne sich von einer gegenüberstehenden Masse eingeengt oder benachteiligt, entsteht ein Konfliktpotenzial, welches sich in Abhängigkeit von der Dauer der Stresssituation zu einer Auseinandersetzung entwickeln kann.
Fühlt sich hingegen die Masse gemeinsam positiv oder negativ von äußeren Umständen beeinflusst kann dies zu Euphorie oder Aggression führen. Die amerikanische Neuropsychologin Naomi Eisenberger fand hierzu heraus, dass das Gehirn soziale Ausgrenzung, Demütigung oder Armut genauso empfindet und mit Aggression beantwortet, wie wenn körperliche Gewalt zugefügt wird.
SOZIALE INKLUSION
Massenprobleme in Bezug auf das Thema Heimatsuchende entstehen durch eine Ansammlung von Menschen mit unterschiedlicher Interessenslage.
Faktoren wie, unterschiedlicher kultureller Hintergrund, kaum spürbare Lebensverbesserungen im Vergleich zur Fluchtursache tragen in Kombination mit dem beengten Lebenswandel zu Konflikten bei. Ein Ansatz um diesem Zustand entgegen zu treten, ist das Konzept der sozialen Inklusion. Diese wird verwirklicht, wenn jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben. Unterschiede und Abweichungen werden im Rahmen der sozialen Inklusion bewusst wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar aufgehoben.
Ihr Vorhandensein wird von der Gesellschaft weder in Frage gestellt noch als Besonderheit gesehen. Das Recht zur Teilhabe wird sozialethisch begründet und bezieht sich auf sämtliche Lebensbereiche, in denen sich alle barrierefrei bewegen können sollen. Sie bedeutet auch Gleichwertigkeit eines Individuums ohne „Normalität“, da als Normal die Vielfalt angesehen wird. Die Gesellschaft schafft Strukturen, in denen sich Personen mit Besonderheiten einbringen und auf die ihnen eigene Art wertvolle Leistungen erbringen können.
Dort, wo Inklusion als sozialpolitisches Konzept gelingt, werden separierende Einrichtungen überflüssig.